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News

Was Corona mit den Müttern macht

Der eigene Job, möglicherweise im Homeoffice, Kinderbetreuerin, Animateurin, Haushalt – und jetzt auch noch Lehrerin, wenn Kinder im Homeschooling am Küchentisch sitzen. Die Last, die Corona den Familien, den Frauen, aufdrückt, stieg und steigt nach wie vor. Seit den Sommermonaten werden im Bezirkskrankenhaus Bayreuth vermehrt Frauen behandelt, die aufgrund der aktuellen Belastung einfach nicht mehr können. Dr. med. Stephanie Tieden, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberärztin auf der Depressionsstation, erklärt, was Corona mit den Müttern macht.

Frau Dr. Tieden: Wie geht es den Müttern gerade?
Stephanie Tieden:
Viele Mütter sind aktuell am Ende ihrer Kräfte angelangt, die langen Monate mit der Corona-Pandemie wirken sich jetzt doch bei der Allgemeinheit der Familien entsprechend negativ aus. Die gesamte Bevölkerung - ob jung ob alt, ob ledig oder in Familie zusammenlebend - musste sich jetzt ja schon sehr lange mit vielen Einschränkungen des Lebens, vielen Veränderungen und Belastungen und auch mit vielen Ängsten und Sorgen befassen. Das ist ja an vielen von uns nicht spurlos vorbeigegangen, fast jeder leidet in irgendeiner Form unter der aktuellen Situation. Insbesondere Familien mit Kindern sind ganz besonders natürlich auch von den vielen Einschränkungen in den Betreuungsmöglichkeiten der Kinder zusätzlich belastet. Wenn ich nicht nur für mein eigenes Wohlergehen verantwortlich bin, sondern auch für das eines oder mehrerer kleiner Menschen, dann bürdet mir das natürlich auch mehr Verantwortung auf. Es geht ja nicht nur darum, die Kinder „irgendwie zu betreuen“ oder gar „abzuschieben“, wie man es leider manchmal hört, sondern den allermeisten Müttern ist es ja primär vor allem wichtig, dass es ihren Kindern gut geht. Und auch das ist in Zeiten von Corona ja nicht mehr so einfach, wenn auch vieles, was für Kinder wichtig und gut ist, nicht mehr verfügbar ist. Angefangen von der Betreuung und Beschulung, aber auch Fördermaßnahmen, Sport- und Musikangebote, Treffen mit Freunden. 

 

Dieses nicht-mehr-verfügbar sein reicht ja auch in die Freizeit…
Stephanie Tieden:
Ja, auch die Ausgleichsmöglichkeiten in der Freizeit sind sehr beschränkt, man kann als Familie am Wochenende nicht mehr in das Wildtiergehege, ins Schwimmbad oder Kinderkino gehen. Die Spielplätze waren im ersten Lockdown ganz zu, jetzt ist man beschäftigt, darauf zu achten, dass die Kinder genügend Abstand zu anderen Kindern halten und muss den Kindern erklären, warum sie auf einmal eben nicht mehr wie früher einfach mit allen anderen Kindern unbeschwert spielen dürfen. Auch die Kinder leiden stark unter Corona, unter den eingeschränkten Kontakten zu anderen Kindern und zu älteren Familienangehörigen. Auch hier müssen die Eltern ja viel emotional abpuffern, immer wieder erklären, trösten und aushalten, dass die Kinder leiden. Dass ist für Eltern psychisch auch nicht einfach, da man ja will, dass es den Kindern gut geht. Wenn dann auch noch die Ansprüche von Homeschooling, Betreuung und Homeoffice parallel und weiterhin die Ansprüche der normalen Alltagsabläufe hinzukommen, ist man schnell einfach komplett am Ende seiner Kräfte. Wäsche, Haushalt, Kochen, Einkauf – das ist ja alles nicht weniger geworden, sondern weiterhin auch da.

Warum sind es überwiegend Mütter, die die Last der Pandemie tragen?
Stephanie Tieden:
Das ist nicht unbedingt in allen Familien so, aber ja, häufig sind es die Mütter, die besonders belastet sind, was sicher unterschiedliche Gründe hat. In Deutschland ist es in vielen Familien noch üblich, dass Frauen nach der Geburt der Kinder mehr sogenannte „Care-Arbeit“ innerhalb der Familie übernehmen und länger der Familie zuliebe zuhause bleiben und oft eher in Teilzeit arbeiten, während viele Männer unverändert in Vollzeit weiterarbeiten. Auch in Familien, wo beide Elternteile arbeiten, sind es häufig die Frauen, die die Organisationsleistung übernehmen und die Abläufe im Familienleben koordinieren – Stichwort „mental load“. Gerade hier in Süddeutschland sind die klassischen Rollenbilder mit dem Vater als Vollzeitverdiener und der Mutter als Hausfrau oder maximal in Teilzeit arbeitend, noch mehrheitlich zu finden. Es war schon vor Corona für viele Frauen gar nicht so einfach, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Ohne Unterstützung von Partner und weiteren Unterstützern (wie zum Beispiel Großeltern vor Ort) ist es de facto oft einfach aufgrund der mangelnden Strukturen bezüglich qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung gar nicht anders möglich, dass nicht einer – eben meist die Mutter – beruflich zurückstecken und reduzieren muss. Ich selbst könnte als Mutter einer Tochter im Kindergarten-Alter auch nicht in Vollzeit in der Klinik arbeiten, wenn mein Mann nicht so gute flexible Arbeitsbedingungen hätte und wir nicht zusätzlich noch viel Unterstützung durch die Großeltern vor Ort erhalten würden. Das sind Grundbedingungen, die haben viele andere so gar nicht zur Verfügung. Durch die Corona-Pandemie war es dann bei vielen Familien auch naheliegender, dass die Frauen, die doch „eh schon mehr zuhause sind“ dann auch überwiegend die zusätzliche Betreuung der Kinder übernehmen, hier haben sich die bestehenden Rollenbilder eher noch verfestigt und verstärkt. Und man darf auch nicht vergessen, dass insbesondere unter den alleinerziehenden Eltern der Anteil der alleinerziehenden Mütter wesentlich höher ist – diese Mütter trifft die Corona-Situation natürlich ganz besonders hart.

Die Nerven liegen blank. Plötzlich sind wir nicht nur Mutter sondern auch Lehrerin, Trainerin, Motivatorin, Freundeskreis für die Kinder, wir haben die Verantwortung für alles und jeden. Und wenn wir laut werden, heißt es, „hättest halt keine Kinder bekommen“. Was macht das mit den Frauen?
Stephanie Tieden:
Letztlich ist das ja Abwertung pur. Spannend ist auch immer wieder, dass solche Kommentare überwiegend die Frauen zu hören bekommen, die dazugehörigen Männer doch eher selten. In unserer Gesellschaft ist ja häufig generell noch sehr verbreitet, dass es selbstverständlich und normal ist, als Frau all die genannten Rollen innerhalb der Familie zu übernehmen, dafür aber eben keine entsprechende Anerkennung mehr zu bekommen. Durch die CoronaPandemie sind die Belastungen gestiegen, die Anerkennung aber definitiv nicht. Viele fühlen sich aktuell sehr alleine gelassen von Politik und Gesellschaft, haben den Eindruck, übersehen und in all der gesteigerten Anforderung gar nicht mehr ernst genommen zu werden. Das kann dann schnell zur Verstärkung von vielleicht schon vorhandenen Selbstwertproblemen und Selbstzweifeln führen.

Was passiert mit den Müttern, wenn jetzt on top zu Berufstätigkeit und dem Mutterdasein noch Homeschooling, Homeoffice, Betreuung rund um die Uhr kommt?
Stephanie Tieden:
Viele Eltern und Familien haben sowieso schon vor Corona nur ein sehr wackeliges Gleichgewicht zwischen Belastung einerseits und Kompensationsmöglichkeiten beziehungsweise Ressourcen, das heißt Möglichkeiten zum Kraft-Schöpfen, Regenerieren, gehalten. Durch Corona ist dieses Gleichgewicht jetzt eindeutig gekippt. Das Fatale an der aktuellen Situation ist ja, dass die Belastungen und Anforderungen mehr werden, während die Möglichkeiten zum Ausgleich und zur Unterstützung gleichzeitig drastisch gesunken sind. Haushalt, Berufstätigkeit, Betreuung der Kinder, Homeschooling, bei vielen Familien auch noch finanzielle Belastungen und starke Zukunftssorgen bei unsicherer beruflicher Situation der Eltern oder drohender Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit… Daneben aber kein Ausgleich mehr, fast alles, was viele Menschen heute zum Wohlbefinden nutzen, Schwimmbad, Sauna, Kino, Sportgruppen, ein Yoga-Kurs, eine Eltern-Kind-Gruppe, das Treffen von Freunden... das ist fast alles ersatzlos weggefallen und viele befinden sich seit Wochen gefühlt alleine mit ihren Kindern überwiegend zuhause. Das haben im ersten Lockdown viele noch als positiv erlebt, aber jetzt wird es zermürbend, vor allem weil aktuell die Perspektiven fehlen, wie es weitergeht. Aktuell berichten viele, dass sie sich in einer Endlosschleife fühlen. Das ist frustrierend und schlägt auch auf die Stimmung. Und man darf nicht vergessen, dass bei vielen auch die Unterstützung der Großeltern nicht mehr wie früher möglich ist, weil diese zum Beispiel zur Risikogruppe gehören und Abstand halten müssen. Bei manchen kommt dann sogar noch die Sorge um schwer durch Corona erkrankte Eltern oder nahe Angehörige dazu. Wenn dann sowieso schon einige andere Faktoren, die eine Depression begünstigen können, vorliegen (zum Beispiel eine gewisse familiäre Veranlagung, bereits frühere Depressionen, schwierige Lebensereignisse, vermindertes Selbstwertgefühl und bestimmte Persönlichkeitsfaktoren), dann kann durch Corona und die zunehmende Belastungssituation eine Depression entstehen.

Was sind Alarmsignale, woran merke ich, jetzt brauche ich Hilfe?
Stephanie Tieden:
Typische Symptome einer depressiven Symptomatik sind: Eine länger bestehende gedrückte Stimmungslage, Schlafstörungen (nicht einschlafen können oder früher/häufiger aufwachen), weil im Kopf noch so viele Gedanken und Sorgen kreisen oder weil der Körper sich innerlich unruhig anfühlt. In all dem Alltagstrubel gar keine Zeit mehr für sich haben, beziehungsweise wenn man sie dann hat, damit nichts mehr anfangen können, weil man auch zu früher angenehmen Dingen wie Lesen, Sport und so weiter überhaupt keine Lust mehr hat oder der Antrieb fehlt. Ängste, die immer stärker werden, man gefühlt in negativen Denkschleifen festhängt und gar nicht mehr in der Lage ist, sich an etwas wie früher zu freuen, sich ständig erschöpft und kraftlos fühlt, vielleicht auch eine innere Leere und das zunehmende Gefühl bekommt, dass doch eh alles sinnlos ist. Bei vielen Menschen bestehen in einer Depression auch starke Selbstzweifel, Konzentrationsstörungen, Hoffnungslosigkeit, Schuld- und Versagensgefühle, Appetitstörungen (weniger Appetit, aber manchmal auch Frustessen) und manchmal auch Suizidgedanken. Was kann man selbst tun, wenn man merkt, es geht nicht mehr? Stephanie Tieden: Wer solche Symptome nicht nur vereinzelt, sondern über mehrere Wochen bei sich bemerkt, sollte sich frühzeitig Hilfe suchen. Wichtig ist, nicht allein zu bleiben, sondern sich anderen mitzuteilen, wenn es geht, natürlich Vertrauenspersonen wie dem Partner oder Angehörigen und Freunden, aber auch die Hausärztin kann ein guter erster Ansprechpartner sein. Diese kann dann auch eine Überweisung zur Behandlung bei einem Psychiater und einem ambulanten Psychotherapeuten ausstellen oder auch – wenn bereits eine schwere depressive Symptomatik vorliegt – eine Überweisung zur stationären Behandlung, zum Beispiel in unsere Klinik. Auch die Telefonseelsorge kann ein guter Anlaufpunkt sein, wenn man sich in einer akuten Krise befindet und einfach jemanden zum Reden braucht (0800 111 0 111 oder 0800 0 222 - rund um die Uhr kostenfrei erreichbar). Sowohl hier auf der Homepage unserer Klinik oder auch bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe finden sich auch online viele hilfreiche Informationen.

Wie macht sich die zunehmende Belastung der Mütter in der Klinik bemerkbar?
Stephanie Tieden:
Aktuell haben wir im Bezirkskrankenhaus Bayreuth auf der Depressionsstation seit dem Sommer häufiger Frauen gehabt, bei denen alle oben genannten Belastungsfaktoren durch Corona zutrafen. Natürlich kann man nicht einfach sagen, dass jemand ausschließlich aufgrund der Corona-Situation schwer depressiv wird, denn bei depressiven Störungen handelt es sich meist um multifaktorielle Prozesse mit verschiedenen Einflussfaktoren. Aber bei vielen derer, die sich aktuell bei uns in Behandlung befinden, war die Corona-Situation quasi der berühmte „letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“. Es fällt bei uns deutlich auf, dass wir seit dem Sommer 2020 viele Patientinnen und Patienten haben, darunter auch viele Mütter, bei denen die Corona-bedingten Belastungen maßgeblich als Auslöser einer akuten schweren Depression gewirkt haben. Da gibt es Frauen, die seit Monaten drei und mehr Kinder zuhause beschulen, gleichzeitig selbst aber noch in Teilzeit im Homeoffice arbeiten. Dann erkrankt noch der eigene Partner oder ein Elternteil schwer an Corona und liegt auf der Intensivstation, darf nicht besucht werden, man bangt um das Leben des geliebten Menschen und befindet sich selbst mit mehreren Kindern in Quarantäne… das sind extreme Belastungssituationen. Bei anderen sind innerhalb kurzer Zeit Eltern oder andere nahe Angehörige an einer akuten Covid-19-Situation verstorben, es gab keine Möglichkeiten des Abschied-Nehmens, der Partner musste in Kurzarbeit, die Situation mit den pubertierenden Kindern zuhause eskalierte zunehmend in ständigen Konflikten durch mangelnde Kompensationsmöglichkeiten… Auch unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Familie zeigen sich zunehmend Belastungen durch die permanente Doppelbelastung mit weiterbestehender hoher beruflicher Belastung und der Familiensituation zuhause, wir merken das auch an uns selbst, dass die langen Monate der Corona-Pandemie auch an unseren Kräften zehren.

Welche Herausforderungen bringt die Pandemie auch bei der Behandlung von Depressionen mit sich?
Stephanie Tieden:
Tatsächlich ist auch die Behandlung von Depressionen durch die Corona-Pandemie nicht einfacher geworden. Vieles, was eigentlich gerade bei Depressionen sehr hilfreich und wichtig wäre, ist aufgrund der Pandemie nicht möglich: Normalerweise ermuntern wir die Patienten ja, sich aktiv unter die Leute zu begeben, sich nicht einzuigeln, soziale Kontakte zu knüpfen. Sportliche Aktivitäten, Bewegung, vor allem eben auch in Gruppen, wird von vielen Patienten als hilfreich erlebt. Zur wichtigen „Selbstfürsorge“ können auch Besuche von Sauna, Schwimmbad, Massagen, Kino oder Restaurantbesuche mit Freunden hilfreich sein – das geht ja gerade alles nicht. Selbst das Wandern alleine in der Natur war ja jetzt zeitweise durch die 15 Kilometer-Regel sehr eingeschränkt. Auch bei uns in der Klinik sind manche Therapieangebote aufgrund der Pandemie nicht oder nur sehr eingeschränkt nutzbar. Insbesondere die Kontaktbeschränkungen werden von den Patienten als sehr einschränkend erlebt. Und auch psychotherapeutische Gespräche sind deutlich schwerer für Therapeut und Patient, wenn beide eine Maske tragen und man kaum die Mimik des anderen erkennen kann.

Haben Sie aus psychiatrischer Sicht Forderungen an Gesellschaft oder Politik – was muss sich tun, um Müttern die Last zu nehmen?
Stephanie Tieden:
Ich glaube, ganz wichtig wäre es, wenn die besonders schwere Situation von Familien überhaupt erst mal entsprechend anerkannt und auch seitens der Politik mal gewürdigt werden würde. Es fehlen konkrete Lösungen, wie die Situation mit Schule und Kinderbetreuung zukünftig geregelt werden kann und damit auch die dringend notwendige Planungssicherheit für Familien. Aus meiner Sicht brauchen Eltern – nicht nur die Mütter, sondern genauso auch die Väter – auch mehr Möglichkeiten, gerade jetzt Berufstätigkeit und Flexibilität für Kinderbetreuung besser vereinbaren zu können und entsprechende Möglichkeiten der Entlastung. Wenn man jetzt in der Zeitung liest, dass große Konzerne vorhaben, gerade explizit Eltern zu kündigen, weil diese so unflexibel wären, dann läuft doch gerade ganz gewaltig etwas falsch. Wo bleibt da der Aufschrei der Politiker? Hier wünsche ich mir noch viel mehr Einsatz.